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Der Friseurladen von Emil Diessenbacher

Gruppenfoto vor dem Friseurladen in Wanne-Eickel
Gruppenfoto vor dem Friseurladen in Wanne-Eickel

Ist Ruhrgebiet gleich Kohlenpott? Diese Frage können wir vielleicht am Ende unserer Zeitreise beantworten. Zunächst werfen wir einen Blick durch ein Zeitfenster auf Emil Diessenbacher, der Anfang der 1920er Jahre in Berlin als Friseur nur schlecht und recht sein Geld verdienen konnte.

Da schrieb ihm sein Schwager, der Steiger auf Zeche Ewald in Herten war: Komm in den Kohlenpott, hier boomt es, hier wird Geld verdient. Emil Diessenbacher eröffnete ein Frieseurgeschäft auf der Karlstraße in Wanne. Das Geschäft lief gut. Bald wollte er sich verbessern und zog auf die Hauptgeschäftsstraße, nämlich in das Haus Hindenburgstraße 316 (heute Herne Wanne, Hauptstraße 316) gegenüber der Laurentiuskirche. Der Laden florierte (siehe Foto). Ein großer Teil seiner Kundschaft waren Polen. In der Laurentiuskirche wurde sonntags ein polnischer Gottesdienst abgehalten. Doch bald stagnierte das Geschäft. Die Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre mit ihren Problemen wie Arbeitslosigkeit und Geldentwertung hatte auch das Ruhrgebiet erfaßt.

Emil Diessenbacher stand oft den ganzen Tag vor der Ladentür und wartete auf Kundschaft. Doch es kam niemand. Irgend jemand erzählte ihm, in Batavia in Holländisch Indien ist alles besser. Dorthin wollte er nun auswandern, verkaufte einen großen Teil des Geschäftsinventars und kaufte sich ein Ticket für die Schiffsreise nach Batavia. Mit dem übrigen Geld hätte er dort eine neue Existenz gründen können. Doch als es losgehen sollte war sein Geld durch die grassierende Inflation innerhalb weniger Tage wertlos geworden. Wovon sollte er jetzt leben?

Die Kumpels bekamen Stempelgeld. Als Selbstständiger hatte er keine Arbeitslosenversicherung abschließen können. Nun mußte er sich etwas einfallen lassen, suchte ein zweites Standbein für sein Geschäft und fing an, auch Spielwaren zu verkaufen. Insbesondere verkaufte er Puppen. Diese gingen oft beim Spielen kaputt und er mußte sie reparieren. So wurde er der in Wanne-Eickel sehr bekannte Puppendoktor mit seiner Puppenklinik, an die sich heute noch alte Wanne-Eickeler erinnern.

In den 30er Jahren ging es dann wieder aufwärts, bis der zweite Weltkrieg kam. Aus Altersgründen wurde er nicht mehr als Soldat eingezogen, sondern zum Sicherheits- und Hilfsdienst -SHD-. Ältere Männer, die nicht mehr fronttauglich waren mußten in der Heimeat ihren Dienst tun. Er wurde in der Josefschule einquartiert. Das bedeutete wieder eine Flaute für sein Geschäft, das seine Frau weiterführte. Die Bombenangriffe überlebte man im Keller und später im Bunker.

Als man einmal nach der Entwarnung aus dem Bunker zurückkam stand das Nachbarhaus nicht mehr. Die Bewohner wurden vorrübergehnd im Friseurgeschäft einquartiert. Als SHD-Mann mußte er vor Martzinna Wache schieben, weil dort Kartoffeln gelagert waren. Er mußte die Leute vertreiben, die sie wegen der Hungersnot klauen wollten. Wenn keiner kam klaute er welche für sich selbst.

Genauso ging es mit den Kohlehalden am Kanal. Wenn man keine Kohle organisieren konnte, wurde mit Mutterklötzen in Küppersbuschlänge gestocht.*

Nach der "Überrollung" wieder in seinem Geschäft mußte er die Kriegheimkehrer aber auch viele Daheimgebliebene mit speziellen Kopfpackungen und Säuren entlausen. Die Hungersnot zwang zu Hamsterfahten mit dem Fahrrad in die Gegend von Recklinghausen, von denen er oft mit mehr Hundebissen als mit Lebensmitteln zurückkam. Doch die Kumpels liessen sich wieder das Haar schneiden und ihre Frauen wünschten sich eine "Entwarnungsfrisur" mit der sanften Welle, die entweder als Dauer- oder Wasserwelle oder mit dem Onduliereisen hergestellt wurde.

Das Leben im Ruhrgebiet wurde allmählich wieder erträglich. Emil Diessenbacher betrieb sein Geschäft noch bis in die 60er Jahre. Er hat ein richtiges Stück Kohlenpott gelebt.


Erstellt: 23.02.2007, letzte Änderung: 20.05.2007